Neun Jahre lang war ich mit einem Mann zusammen, der ein Alkoholproblem hatte. Oft werde ich gefragt: „Wann hat er denn zu trinken begonnen?“. Wenn ich dann erzähle, dass es von Anfang an unserer Beziehung so war, dann herrscht meistens betroffenes Schweigen. Ich kann es ja selbst kaum glauben.
Meine immerwährenden Gedanken in der Beziehung können ganz einfach wie folgt zusammengefasst werden:
Er trinkt ja nicht jeden Tag.
Naja, ab und zu ein paar Eskalationen am Wochenende - was soll's.
Nein! Also Alkoholiker ist er auf keinen Fall.
Er entschuldigt sich ja jedes Mal bei mir. Es tut ihm alles wirklich leid.
Er sagt mir jedes Mal, dass das Betrinken nie wieder vorkommt.
Wenn er mich wirklich liebt, dann wird er aufhören zu trinken.
Diese Gedanken waren tägliches Programm, wie in Dauerschleife kreisten sie in meinem Kopf. Ehrlich gesagt, wenn ich darüber nachdenke, kann ich gar nicht mehr alle Eskalationen wiedergeben. Es waren einfach zu viele.
Ich möchte mit euch nun meinen gedanklichen Brief an ihn teilen ...
Jedes einzige Mal musste jemand anderes mit dem Auto zu einer Abendveranstaltung fahren, aber auf keinen Fall DU. DU wolltest ja gerne etwas trinken. Ich kann mich an das eine Mal erinnern, als du selbst mit dem Auto gefahren bist und ich mich so sehr darüber gefreut habe mit dir nüchtern den Abend zu verbringen. Das war einer der schönsten Abende, die ich mit dir jemals hatte.
Du hast oft alles durcheinander getrunken, angefangen von Bier, über Wodka bis hin zu Schnaps. Du hast gerne in Gesellschaft getrunken. Wenn die anderen nicht trinken wollten, dann hast du trotzdem für Nachschub gesorgt, denn einmal nichts Alkoholisches zu trinken war nicht „erlaubt“.
Oft warst du ab einem gewissen Zeitpunkt bei Veranstaltungen einfach spurlos verschwunden und wenn du dann wieder betrunken aufgetaucht bist, warst du paradoxerweise rasend vor Eifersucht, da du mich ja schon überall gesucht hättest.
Du hast immer die Grenze überschritten und am Heimweg auch noch oft ein alkoholisches Getränk getrunken. Es war einfach niemals genug. Anfangs habe ich ja immer nach diesen Abenden noch in derselben Nacht mit dir darüber gesprochen, diskutiert oder mit dir gestritten. Bis ich realisierte, dass du dich am nächsten Tag nicht mehr an den Vorabend erinnern konntest. Das heißt, ich diskutierte nur noch am nächsten Morgen darüber. Und irgendwann kapierte ich, dass auch das nichts bringt. Und so sagte ich irgendwann gar nichts mehr darüber und schwieg.
Ich hatte doch so viel versucht. Ich habe mit dir darüber gesprochen, dir Briefe geschrieben, ich habe mit Freunden und deiner Familie darüber gesprochen, die sich auch Sorgen machten etc.
Ich habe dich gebeten, dir helfen zu lassen bzw. zu einer Selbsthilfegruppe zu gehen. Du wolltest nicht. „Das ist zu teuer.“ und „Ich habe keine Zeit.“ - Das waren nur wenige von vielen Ausreden.
Ich wäre mit dir mitgegangen - egal wohin. Ich hätte es bezahlt. Ich hätte einfach alles für dich gemacht.
Doch ich wusste, wenn du es nicht aus eigenem Interesse und aus eigener Kraft machst, macht das alles absolut keinen Sinn.
Es gab auch Momente, in denen du mich um Hilfe gebeten hast. Ich habe dir immer ehrlich gesagt, dass ich dir nicht helfen kann, weil ich keine Expertin bin. Aber ich habe dir angeboten, dass wir gemeinsam Hilfe suchen können.
Doch das wolltest du nicht.
Ich habe dich so sehr geliebt, wenn du nüchtern warst. Sobald du betrunken warst, habe ich dich gehasst. Diese betrunkene Person hat mir meinen Freund weggenommen. Diese Person war mutig, laut, traute sich mit anderen Personen zu reden und dachte nur an sich selbst. Diese Person war mir peinlich. Diese Person machte mich sehr traurig. Diese Person sagte Sachen zu mir, die mich sehr verletzten. Ich wollte diese Person vor Wut am liebsten schlagen, damit sie mir meinen Freund endlich zurückgibt. Ich wollte, dass diese Person für immer aus deinem Körper verschwindet. Diese vielen Momente, die mir bis heute nicht aus meinen Kopf gehen …
Dieser Moment, als du betrunken am Boden lagst und ich Angst hatte, dass du an deinem Erbrochenen erstickst. Dieser Moment, als du neben mir betrunken im Auto gesessen bist und ich immer wieder geprüft habe, ob du noch atmest.
Dieser Moment, als du ein anderes Mädchen vor meinen Augen geküsst hast und es im Nachhinein auf den Alkohol geschoben hast.
Dieser Moment, als ich dachte, dass es besser ist bei jemand Betrunkenen mitzufahren, als dich alleine heimzuschleppen.
Dieser Moment, als du wieder mal verschwunden warst und ich dich überall gesucht habe.
Dieser Moment, als du mit deinen bloßen Händen die Glasscherben vom Boden zusammengekehrt hast und danach so stark geblutet hast.
Dieser Moment, als du dich in das Auto von einer Freundin übergeben hast und danach alles verheimlichen wolltest.
Dieser Moment, als ich meine Eltern wieder mal angelogen habe, warum du beim Mittagessen nicht dabei sein kannst, weil du dich am Vorabend komplett aus dem Leben geschossen hattest.
Dieser Moment, als ich hoffte, dass du mir sagst, dass du doch in eine Beratung gehen wirst und mir aber nur sagen wolltest, dass es nachher einen sehenswerten Film im Fernsehen spielt.
Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit, Liebe alleine reicht nicht, um sie zu behandeln
Nach sechs Jahren Beziehung schrieb ich dir einen Brief, wo unter anderem stand, dass ich dich verlasse, wenn du noch einmal trinkst. Du hast wieder getrunken und ich bin bei dir geblieben.
Nach neun Jahren Beziehung war die Liebe buchstäblich tot.
Am Ende fühlte es sich so an, als wären keine Gefühle für dich mehr übrig. Du wolltest die Trennung nicht und wolltest mir versprechen, dass du nie wieder einen Schluck Alkohol anrühren würdest. Aber ich konnte nicht mehr. Nach der Trennung wollten mich deine Mutter und deine Freunde überreden, zu dir zurückzugehen. Aber ich konnte nicht mehr. Als wir danach mal telefonierten, hast du mir erzählt, dass der eine Freund auch ab und zu mal mehr trinkt. Dessen Freundin rege sich darüber aber nicht so auf, wie ich es immer getan habe ...
Mit der Trennung habe ich mich selbst aus der Co-Abhängigkeit gerettet.
Ich habe vor längerer Zeit in einem Internet-Forum über meine Erfahrungen mit dir und dem Thema Alkohol geschrieben und mir wurde schon damals geraten: Nimm deine Beine in die Hand und lauf so schnell du kannst davon.
Ich wollte es aber nicht wahrhaben. Ich dachte, wenn du mich liebst, dann würdest du doch damit aufhören.
Doch ich musste schlussendlich schmerzhaft erkennen: Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit, die man behandeln kann und auch muss. Und Liebe alleine reicht dafür nicht aus.