Hey, du bist doch das Mädchen, das ich letztens beim Fortgehen gesehen habe, nicht wahr? Zehn Uhr abends – die Uhrzeit, um die man gerne von einem fremden Typen mitten auf der Straße angequatscht wird, wenn man gerade von einer Freundin nach Hause geht. Kenne ich ihn? Woher kennt er mich? Welche Bar? Wann? Was haben wir geredet, würde man sich denken.
Tja, leider nicht wahr. Denn seitdem ich vor kurzem erst nach Troyes, Frankreich, gezogen bin, war ich leider noch kein einziges Mal fort. Aber Strategie hat er, das muss man ihm lassen. Eine sehr dreiste noch dazu. Erinnert ihr euch an jeden Abend an dem ihr fort wart, gerade wenn ihr mal ein kleines bisschen tiefer ins Glas gesehen habt, wen ihr alles getroffen und mit wem ihr geplaudert habt? Wer an dieser Stelle verlegen grinsen muss, dem geht es wohl wie mir – und ich bin sicher, dass der Typ mit seinem Spruch durchaus schon bei vielen Mädels das Interesse geweckt haben könnte. Vertrauen. Man kennt sich ja bereits. Oder nicht? Misstrauen. Was weiß er über mich? Neugier. Was will er wohl von mir? Zweifel. Was will er bloß von mir???
Und so etwas ist mir leider nicht erst einmal passiert. Mittlerweile gehe ich nur mehr mit dem Handy in der linken Hand und meinem Haustürschlüssel – umfunktioniert zur Waffe, wenn es sein muss - in der rechten Hand nachts durch die Straßen Frankreichs nach Hause.
Frauen sind in der Nacht wie Exoten anzutreffen: Es gibt sie kaum. Und wenn, dann sicher begleitet von zwei oder drei Männern.
Stattdessen, scheint es, dass nachts die Wölfe die Stadt einnehmen: Ich sehe Männer, die alleine ihre Runden joggen. Hier ein Kerl, der vom Gym heimgeht. Dort ein Mann, der herumsteht und von dem man sich beobachtet fühlt, auch, wenn man gar nicht sicher weiß, ob er einem gerade nachsieht oder nicht. Eine Gruppe von jungen Männern, die in den Straßen lungern und Spaß haben. Obdachlose Betrunkene. Eine streitende Männergruppe, durch die ich durchhuschen muss, um zu meiner Wohnung zu gelangen. Und immer wieder irgendwelche Typen, die Witze reißen und mir hinterherpfeifen. Weibliche Spezien? Weit und breit nicht in Sicht. Eine Französin sagte mir bereits, dass ich nachts nicht alleine durch die Straßen gehen sollte und dass es viel zu gefährlich sei und viel zu oft was passiert.
Und ja, ich fühle mich unwohl. Aber was bleibt mir übrig? Anna und ich reisen oft herum und die Züge kommen meist sehr spät in Troyes an. Busse gehen dann nach 22 Uhr keine mehr und Taxis sind genauso selten wie Frauen in der Nacht. Also, gehe ich oft zu Fuß, stets mit dem Gefühl dass etwas passieren könnte.
Auch, wenn mich der Gedanke, dass ich fünf Monate Krav Maga in Paris trainiert habe, beruhigen sollte, so tut er es oft doch auch nicht – das ungute Gefühl, das meine Schritte bei Dunkelheit schneller werden, lässt mich selten los.
Und dennoch habe ich mich entschieden, dass die Nacht auch mir gehört und nicht nur den Wölfen. Denn ich habe es satt, immer vorsichtig zu sein. Ich habe es satt, bei Einbruch der Dunkelheit auf Alarmbereitschaft zu gehen und deshalb lieber daheim zu bleiben. Ich habe es satt, nachts nicht das tun zu dürfen, was mir beliebt. Ich habe es satt, dass Frauen in der Nacht nie ohne einen Blick über die Schulter ihre Wege gehen können.
Ist das etwa der Begriff von Freiheit?
Dies trifft nicht nur für Troyes zu, auch in Städten in Österreich oder anderen Ländern sieht es meist sehr ähnlich oder noch gefährlicher ausUnd dennoch bin ich der Meinung, dass sich diese Situation ändern muss, denn ich finde vor Gender-Pay Gap oder geforderten Frauenquoten sollte es zu allererst möglich sein, sich zu jeder Zeit - egal ob Mann oder Frau - sich sicher durch die Straßen bewegen zu können.
Marlien Stieger studiert derzeit General Management und Marketing & Internationl Business Development als Double Degree Diplom an der JKU Linz und an der ESC Troyes in Frankreich.
Co-Autorin: Anna Lane